25 Jahre Evangelische Kreuzkirche Tittling – 7. Juli 2013
Predigt von Dekan Dr. Wolfgang Bub
Evangelische Freiheit zwischen Gesetzlichkeit und Beliebigkeit
 
 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
was ist eigentlich typisch evangelisch? Was unterscheidet Protestanten von anderen Christen?
Manche sagen: Dass wir keinen Papst haben, keine Maria, keine Heiligen, kein Fegefeuer.
Na gut, das stimmt ja alles. Aber es muss doch auch etwas Positives geben. Etwas, was wir Protestanten haben – und die anderen eben nicht.
Wäre Martin Luther unter uns und wir würden ihn fragen, vielleicht bekämen wir zu hören: „Typisch evangelisch ist die evangelische Freiheit!“
Vielleicht würden wir zurückfragen: „Lieber Martin, evangelische Freiheit, was ist denn das nun wieder?“
Und Martin Luther könnte antworten: „Ihr müsstet das doch wissen! Ging es bei eurem Dekanatskirchentag in Ortenburg nicht um das Thema ‚Freiheit leben‘? Aber ich will euch die evangelische Freiheit noch einmal erklären. Mit zwei berühmten Sätzen aus meiner Schrift ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘.
Der erste: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.
Der zweite: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Klingt schon etwas altertümlich: Jede und jeder von uns ein freier Herr – und ein dienstbarer Knecht!
Heute, zum 25-jährigen Jubiläum der Kreuzkirche, geht es in der Predigt um die evangelische Freiheit. Denn dazu ist diese Kirche ja gebaut worden, dazu trifft sich hier die Gemeinde: Damit Menschen dieser Freiheit begegnen. Damit sie es lernen, als freie Herren und dienstbare Knechte ihren Glauben zu leben.

1. Evangelische Freiheit ist nicht einfach
Wenn das mit der Freiheit aber nur so einfach wäre. Oft ist sie anstrengend. Gerne wird sie deshalb missbraucht, missverstanden oder wieder eingeschränkt.
Ein gerade in der evangelischen Kirche verbreitetes Missverständnis der Freiheit ist, dass viele Christen sie mit Beliebigkeit verwechseln.
Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Die Hochschätzung der Freiheit hat dazu geführt, dass in der Reformationszeit der Beichtzwang abgeschafft wurde und dass es bei uns – anders als in der katholischen Kirche – keine Pflicht gibt, am Sonntag den Gottesdienst zu besuchen. Martin Luther hat gedacht: Wenn der Zwang nicht mehr da ist, dann werden die Leute gerne von selbst kommen.
Aber die Entwicklung ist anders gelaufen. Viele Evangelische verwechseln Freiheit mit Beliebigkeit. Ob ich ein geistliches Leben führe oder nicht, ob ich mich zu meiner Kirche halte oder nicht, ob ich wirklich verantwortlich mit meiner Freiheit umgehe oder nicht, ob ich nicht nur freier Herr, sondern auch dienstbarer Knecht bin, das ist den meisten Evangelischen egal. Leider.
Ein eher in der katholischen Kirche verbreitetes Missverständnis ist: Dass die Freiheit aus Angst, sie könnte missbraucht werden, gerne eingeschränkt wird. Daran erinnert eines der bekanntesten Lieder von Marius Müller Westernhagen. Es trägt den Titel "Freiheit". In seinem Lied singt er:

Die Kapelle rumtata
und der Papst war auch schon da
und mein Nachbar vorneweg
Freiheit, Freiheit
ist die einzige die fehlt.

Der Mensch ist leider nicht naiv,
der Mensch ist leider primitiv!
Freiheit, Freiheit
wurde wieder abbestellt.

Ich habe ja Hoffnung, dass der Text im Blick auf den neuen Papst und den künftigen Passauer Bischof so nicht mehr stimmt. Manche Erfahrungen der Vergangenheit aber zeigen, dass Westernhagen wenigstens hin und wieder recht hat.
Wie aber sieht dann die Freiheit aus, in die das Evangelium hinein führt?
Ich will versuchen, dies an ein paar Punkten zu verdeutlichen.

2. Evangelische Freiheit sucht die Verantwortung
Zuerst einmal: Evangelische Freiheit sucht die Verantwortung.
Der tiefste Grund dafür ist, dass sich Gott selbst in seiner Freiheit eingemischt hat. Er ist einer von uns geworden und nicht in der Distanz geblieben. Kann man an einen Gott glauben, der seine Freiheit nutzt um sich zu engagieren, ohne selbst Verantwortung zu übernehmen?
Manche sprechen diesbezüglich vom Priestertum aller Gläubigen. Jede und jeder von uns ein Priester. Einer, der sich nicht hinter anderen verstecken braucht, verstecken darf. Der seine Verantwortung vor Gott deshalb auch nicht einfach delegieren kann an den Kirchenvorstand oder die Pfarrer, an den Bischof, den Papst oder wen auch immer. Keiner sollte sich – ohne selbst nachzudenken – hinter Entscheidungen der so genannten Oberen verstecken.
So führt Evangelische Freiheit nicht in die Beliebigkeit, sondern in die Verantwortung. So, wie viele von uns sich in aller Freiheit entschieden haben, in unserer Kirche mitzuarbeiten. Nicht aus Zwang. Nicht um dem Pfarrer oder wem auch immer einen Gefallen zu tun. Das schon auch manchmal. Aber vor allem deshalb, weil sie so frei waren und sind, sich einzubringen.

4. Evangelische Freiheit sagt ja zur Kirche
Immer wieder beobachte ich bei evangelischen Christen ein problematisches Verhältnis zur eigenen Kirche. Schade, wenn wir in der Kirche nur eine Art notwendiges Übel sehen, sie aber nicht mittragen, achten und lieben.
Die populäre Variante begegnet mir bei vielen Besuchen. Oft höre ich Sätze wie: „Herr Pfarrer, mich werden Sie kaum im Gottesdienst sehen. Aber ich kann auch ohne Kirche glauben.“
Daneben gibt es eine zweite, unter Mitarbeitenden verbreitete Variante der Selbstmissachtung: Im Kern steht dabei eine tiefe Frustration über die eigene Kirche. Weil es in ihr menschelt. Weil es oft so bürokratisch zugeht.
Ich wünschte mir unter evangelischen Christen mehr Liebe und Achtung für die eigene Kirche. Dass wir sie als Ort sehen und entdecken, an den Gott uns mit unserem Glauben gestellt hat. Dass wir so frei sind, bei aller berechtigten Kritik doch Ja zu sagen zur eigenen Kirche.
Das heißt nicht, alles, was in unserer Kirche geschieht, zu tolerieren und für toll zu halten. Aber es ist ein grundlegender Unterschied, ob ich in ihr bloß ein notwendiges Übel sehe oder ihr mit Respekt und Liebe begegne.
Unsere Kirche ist keine unfehlbare Heilsanstalt. Aber sie ist – um es in ein biblisches Bild zu fassen – ein irdenes Gefäß, in dem wir den „Schatz“ unseres Glaubens, unseres Bekenntnisses bewahren wollen.

5. Evangelische Freiheit weiß um die andauernde Reformbedürftigkeit der Kirche
Dabei wissen wir, dass die Kirche Fehler hat und ständig reformiert werden muss. „Ecclesia semper reformanda“ sagten die Reformatoren dazu.
Wir sind eingeladen, diesen Veränderungsprozess aktiv mitzugestalten. Uns immer wieder zu fragen: Wie soll Gottes Kirche in unserer Zeit aussehen? Welche Struktur ist nötig? Worauf müssen wir Schwerpunkte legen?
Kirche verändert sich – ob wir es wollen oder nicht. Oft führen äußere Faktoren, die wir kaum beeinflussen können, dazu. Wenn Tausende von Aussiedlern in einen Dekanatsbezirk ziehen; wenn die Ganztagsschule kommt und Zeiten belegt, wo bisher Raum für Jugendarbeit oder Konfirmandenunterricht gewesen ist; wenn der demographische Wandel auch in unseren Gemeinden Spuren hinterlässt.
Kirche ist im ständigen Wandel. Etlichen macht das Angst. Manche flüchten sich dann in nostalgische Betrachtungen und meinen: Früher war alles besser. Da waren die Kirchen voller und die Menschen frömmer.
Ich wehre mich aber gegen die Meinung, alles würde immer schlechter. Richtig ist: Vieles wird anders – auch in unserer Kirche. Christus hat uns nicht verheißen, dass wir durch die Zeiten hindurch eine Volkskirche mit hohen Kirchensteuereinnahmen, hervorragend ausgestatteten Gebäuden, einer großen Zahl an haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden bleiben. Ich bin froh, dass vieles von dem nach wie vor zutrifft. Das kann ein guter Rahmen für gelingende Arbeit sein. Aber die entscheidende Verheißung unseres Herrn lautet anders: Nämlich, dass er im Wandel der Zeiten bei seiner Kirche bleiben will. Dass er dabei sein will, wo zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind. Unabhängig von den materiellen Rahmenbedingungen.

6. Evangelische Freiheit ist auch Freiheit zur Ökumene
Zur evangelischen Identität gehört auch das Wissen, dass die Kirche unseres Herrn viel größer ist als die evangelisch-lutherische Kirche. Die Konfessionen übergreifende wahre Kirche gibt es nicht nur bei den Lutheranern.
Im Jahr 1530 schrieb der Reformator Philipp Melanchthon im Augsburgischen Bekenntnis, die Kirche bestehe in der „Versammlung aller Gläubigen …, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.“ Mit anderen Worten: Die weltumspannende Kirche begegnet überall, wo sich Menschen um Gottes Wort und die Sakramente versammeln. Wo zwei oder drei im Namen Jesu Christi versammelt sind, da ist Christus.
Wer sich für die einzig wahre Kirche hält, kann keine Ökumene auf Augenhöhe mehr betreiben. Konsequent zu Ende gedacht kann es dann nur darum gehen, den anderen in die eigene Kirche einzugliedern.
Wer aber weiß, dass Gottes Kirche viel umfassender ist als die eigene Konfession, der wird frei zum ökumenischen Dialog. Diese Einsicht kann uns für das Miteinander der Konfessionen gelassener machen und vor konfessionalistischer Verbissenheit bewahren.
So gehört zur Evangelischen Freiheit auch die Freiheit zur Ökumene.

7. Evangelische Freiheit ist intelligente Freiheit
Im Zentrum unseres Glaubens steht die Beziehung zu Gott. Diese besteht aber nicht nur aus einem religiösen Gefühl. Dazu gehören auch Inhalte: Was glauben wir eigentlich? Und was glauben wir eben nicht? Was gilt für das Leben der Christen? Was denken und sagen wir im Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen?
In unserer Kirche darf nachgedacht werden. Keiner muss einfach schlucken, was irgendwelche Oberen als Wahrheit ausgeben. Unser Glaube besteht auch nicht bloß darin, einmal auswendig gelernte Sätze zu wiederholen. Ein Ziel ist der gebildete, nachdenkende Christ,  der gerade durch seine Bildung Freiheit gewinnt, Entscheidungen zu reflektieren und zu begründen.
Aus diesen Gründen war die Reformation von Anfang an auch eine Bildungsbewegung. Dabei spielt eine Schrift Martin Luthers eine große Rolle. Im Jahr 1524 erschien „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollten.“ Die Schrift beginnt mit einem schönen Sprichwort: „Es ist nicht geringer einen Schüler zu vernachlässigen als eine Jungfrau zu verderben.“  Luthers Schrift ist ein großer Appell an die Obrigkeit, „die allergrößte Sorge und Fleiß aufs junge Volk zu haben“, weil die Eltern dabei oft überfordert sind.
Nicht das Faustrecht, sondern das Kopfrecht müsse herrschen. Nicht Gewalt, sondern Weisheit und Vernunft. Darum müssen junge Leute Sprachen, Geschichte, Singen, Musik und Mathematik lernen.
Evangelische Freiheit ist intelligente Freiheit.
Ich freue mich über alle Veranstaltungen unserer Kirche, wo über den Glauben nachgedacht und die intelligente Freiheit eingeübt wird. Das beginnt bei Predigten, die differenzieren und nicht versimpeln und indoktrinieren. Dazu gehört ein guter Religionsunterricht. Ebenso die Beschäftigung mit der Bibel, der Austausch darüber. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns nicht nur engagieren, sondern uns gönnen, selbst immer wieder auf das Wort zu hören.

Liebe Gemeinde,
soweit ich weiß, wird hier in Tittling die Lutherrose besonders geschätzt. Seit über 20 Jahren arbeitet Pfarrer Plesch daran, dieses Symbol den Menschen nahe zu bringen. Mit beträchtlichem Erfolg. Manchmal habe ich fast den Eindruck: Gäbe es Tapeten mit Lutherrosen, dann würde er die Räume am liebsten damit tapezieren.
Die Lutherrose - ein rotes Herz mit einem schwarzen Kreuz in der Mitte. Umgeben von weißen Rosenblättern und himmelfarbenem Blau. Ab 1530 hat Martin Luther dieses Symbol als Briefsiegel verwendet.
Man kann die Lutherrose auch als Zeichen für die Evangelische Freiheit verstehen: Der Gekreuzigte will unser Herz erreichen. Will uns frei machen. Frei von Schuld und Angst. Will uns ermutigen zum Leben – mitten in dieser Welt. Dass unser Herz nicht eng, sondern weit wird. Dass wir unterwegs sind unter dem blauen Himmel. Dass wir uns dabei freuen über die vielfältigen Gaben Gottes. Die Rose – so schreibt Martin Luther selbst – kann dabei Zeichen sein, dass „der Glaube Freude, Trost und Friede gibt“. Dass wir in aller Freiheit Verantwortung übernehmen. Uns für das Evangelium, für unseren Nächsten engagieren. Bis wir einmal in der Ewigkeit angelangen.
Vor allem dazu wurden und werden Kirchen und Gemeindehäuser gebaut: Um zu so einem Leben einzuladen, um dieses Leben einzuüben. Auch hier in Tittling. In der Kreuzkirche, deren 25-jähriges Jubiläum wir heute begehen. Amen.

Und der Friede des Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn